Sonntag, 27. Januar 2019

Die Ketzer – Teil 2: Markion, der Erzketzer

In Teil 1 behandelten wir Grundsatzfragen und warfen einen Blick auf Paulus, den ich als den ersten Ketzer bzw. "Ketzer" bezeichnete. Mit Markion (auch: Marcion) sehen wir eine Figur, deren Ansatz kein unähnlicher ist, dessen Folgerung aber wesentlich radikaler ausfallen. Wie Paulus sieht Markion einen gewissen Gegensatz zum Judentum im Christentum, den er aber nicht als Präfiguration und das Judentum nicht als Basis des Christentums auffasst. Markion machte seiner Verdammung als "Erzketzer", wie er genannt wird, alle Ehre: Das Judentum, das Alte Testament sei abzuschütteln. Das Christentum gehe nicht darüber hinaus, es sei kein Entwicklungsschritt der Offenbarung, es sei etwas völlig Neues!

Mit Markion berühren wir Fragen, die uns Christen immer wieder unverständlich sind. Du dachtest dir bestimmt auch schon oft, dass Gott im Alten Testament in seinem Wesen ganz anders erscheint, als Jesus es war und als Jesus uns den Vater schilderte. Wie kann das sein? Werfen wir einen Blick auf Markion, sehen wir uns an, wie er diese Frage für sich und seine Anhänger ganz klar löst.

Was wir über Markion wissen, stammt
von seinen Gegnern, darunter Tertullian.
Markions Schriften sind nicht erhalten,
wurden nur rekonstruiert.
Der Begründer des Markionismus stammte aus Anatolien und lebte (vermutlich) von 85 bis 160 n. Chr. Seine Wege führten den wohlhabenden Mann nach Rom, wo er der christlichen Gemeinde einiges an Geld zur Verfügung stellte. Ebenda kam er auch mit gnostischen Ideen in Kontakt und bildete in der Folge seine eigene Theologie aus. Die Exkommunikation und Rückgabe der Spendengelder folgte. 

Wesentlich scheint der von ihm definierte Gegensatz zwischen dem richtenden, eifernden und wilden Gott des Alten Testaments und dem von Jesus offenbarten gütigen, milden und geduldigen Gott, der nicht richtet. Während Ersterer der bekannte Gott und Schöpfer der Erde ist, ist Zweiterer der fremde, unbekannte Gott, der nur Unsichtbares geschaffen hat. Hierin erkennen wir die Unterscheidung der Gnosis: Schöpfergott/Demiurg vs. Erlösergott. Den Weltschöpfer sieht er als Gott, aber als deus inferior (geringer Gott). Er ist auch Gesetzgeber (vgl. dazu die katholische Lehre/Johannesevangelium [Prolog], wonach das Gesetz durch Mose, die Gnade aber durch Jesus gekommen ist), ahndet dementsprechend Vergehen. Nachdem alles Materielle, Irdische von ihm stammt, sieht Markion es als nötig an, asketisch zu leben (Zölibat, Fasten). 

Die katholische Kirche hingegen folgte, so nennt es Adolf von Harnack in seinem Buch "Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott", der Interpretation Paulus als dem nicht fremden, sondern dem verkannten Gott, der sehr wohl auch Schöpfer und Leiter der Welt sei. Wer sich intensiv mit Markion auseinandersetzen möchte, dem sei dieses Buch ans Herz gelegt, hier als PDF online zu lesen. 

Die Gnostiker, Mystiker, auch manche Philosophen sahen in Gott, dem fremden Gott, weiterhin jenen der nichtmateriellen Welt – genau deswegen sei er ja fremd. Das ist ein schier unüberwindbarer Gegensatz, hier die Welt, wie wir sie kennen, mit allen Sinnen erfassen, dort der wahre Gott, der mit all dem nichts zu tun hat. Wir hier in kaum weniger als der Hölle, er dort im Himmel. Markion schaffte in seiner Theologie die Verknüpfung: Dieser wahre Gott, er kam in das Fremde, um uns zu retten – aus purer Gnade.

Markion, aus Sinope stammend, sah Widersprüchliches im Christentum, wie er es vorfand: Der Heiland macht alles neu, doch zugleich verbreitet man die alten Bücher des Judentums. Der Glaube fußte auf dem Logos, zugleich las und glaubte man die Mythen des Alten Testaments. Man verkündete die Auferstehung des Fleisches, sah darin aber auch eine Wurzel des Übels. Man predigte den liebenden Gott, machte aber Angst vor dem strafenden Gott des Weltgerichts u. v. m.

Was lag näher, als die Trennung klar zu vollziehen. Dort das Judentum mit seinen alten Vorstellungen, hier das Christentum, tatsächlich als neuer Wein in neuen Schläuchen. 

Die allegorische Figur Synagoga stand
mit verbundenen Augen für das jüdische
Nichterkennenwollen des Erlösers Jesus.
Das Ganze scheint umso interessanter, bedenkt man, dass Markion vermutlich von Kindheit an Christ war, mit dem Alten Testament gut vertraut. Selbst das Gerücht ging um, er sei der Sohn des Bischofs von Sinope gewesen. Vermutlich wollte er nie ein Sektierer sein, vermutet von Harnack. Und bereits in seiner Heimat sei er exkommuniziert worden, von seinem Vater höchstpersönlich. Verführung einer Jungfrau, behauptet eine antimarkionische Quelle. Das ist eher unwahrscheinlich. Harnack mutmaßt, dass er tatsächlich exkommuniziert wurde, aber aufgrund schwerer theologischer Abweichungen. Markion begab sich auf eine Propagandareise, er dürfte auch eine nicht unbedeutende Zahl an Anhängern gefunden haben, stieß aber auch bald auf heftigen Widerspruch. Sein Gang nach Rom – damals bereits nicht unwesentliches Zentrum der Christenheit – scheint ein Vabanquespiel gewesen zu sein. 

In Rom wusste man vermutlich noch nichts über seine Vorgeschichte. Eine Exkommunikation hatte damals aber auch nicht die Bedeutung von heute, sie war nicht allgemein gültig. Zwischen 139 und 144 scheint er sein Neues Evangelium, in dem er alle jüdischen Elemente entfernt hatte, sowie seine Antithesen geschrieben zu haben. Dann legte er seine Schriften vor: Große Ablehnung zeigte sich, Markion wurde nun aus der Gemeinde ausgeschlossen.

Wie reagierte Markion? Mit reformatorischem Eifer! Wir wissen wenig Genaues, sehen nur die Früchte: zahlreiche Gemeinden in allen Teilen des Römischen Reiches. Harnack spricht von einer großen, stabilen Kirche, die auf Markion fußte. 

Markion legte dar, dass Jesus den auserwählten 12 nicht dauerhaft zu erklären vermochte, dass er der Sohn des fremden Gottes, nicht der Sohn des Gottes des Alten Testaments war. Die Jünger hätten aber Lichtblicke gehabt, etwa, als einer darum bat, Jesus möge ihn lehren, wie man betet. Wäre man im alten Glauben geblieben, so ergebe die Bitte keinen Sinn. Doch fielen sie immer wieder in das alte Denken zurück, deswegen hätte Jesus von einem "ungläubigen Geschlecht" gesprochen. Die Urapostel seien aber keine Irrlehrer gewesen, sondern seien letztlich in einer Konfusion steckengeblieben. Paulus sei daher als gleichsam ein Entwirrer gewesen, der sich auf keine Überlieferung, sondern auf eine Offenbarung berief. Die 4 Evangelien betrachtete er als mit Fälschungen der Judaisten versehen. Genauer gesagt: drei seien gefälscht, eines sei nur verfälscht, nämlich jenes nach Lukas. Eine Begründung hierfür ist nicht überliefert.

Welche Motive leiteten Markion bei seiner "Bereinigung" des Evangeliums? Es waren diese 12:

  1. Der Gott des AT darf nicht als Jesu Vater erscheinen.
  2. Das AT kann Jesus nicht geweissagt haben.
  3. Der gute Gott war dem Weltschöpfer bis zu seinem Erscheinen verborgen.
  4. Der gute Gott ist nicht der Lenker der Erde.
  5. Er ist auch nicht der Richter, sondern der Barmherzige.
  6. Seine Verheißungen beziehen sich ausschließlich auf das ewige Leben.
  7. Jesus ist im Verhältnis zu seinem Vater modalistisch zu sehen (der Modalismus widerspricht der Trinität, Jesus ist nur eine Erscheinungsform des Vaters)
  8. Er hatte nichts Irdisches an sich, keinen Leib (Scheinleib, Doketismus), wurde nicht geboren, hatte keine Verwandten.
  9. Er hat das Gesetz nicht erfüllt, sondern aufgehoben.
  10. Er verlangt völlige Loslösung von der Welt.
  11. Nur Paulus ist ein echter Apostel, nachdem die anderen sich als unbelehrbar erwiesen.
  12. Er wird nicht als Richter wiederkehren, sondern, um die große Scheidung, die sich vollzogen hat, zu deklarieren.

Manch ein Leser wird sich bereits gefragt haben, ob Markion für seine Überarbeitung des Lukanischen Evangeliums auch auf apokryphe Texte (wo schließlich manch Gnostisches zu finden ist) zurückgegriffen hat. Das tat er nicht. Er hielt sich streng an eine Überarbeitung des dritten Evangeliums. 

Die Unterschiede zwischen dem Gott des AT und des NT sind für ihn evident. Die Frage der Gewaltanwendung, des Gerichts, der Auserwähltheit, auch des Wissens (der Gott des AT fragt, wo Adam denn sei ...), das sind Differenzen, die bereits Kindern mitunter auffallen und auf die selten jemand eine dem Laien angepasste Antwort kennt. Als die Menschen ihn vergaßen, erwählte er sich die Juden als sein Volk. Doch nach Markion enthält auch das AT Geschichten, die für Christen lehrreich sein können. 

Dass das Christentum Rituale wie die Beschneidung, die Festordnung, die Speisegesetze abgeworfen hat, versöhnte ihn keineswegs mit der "judaisierenden" katholischen Kirche. Der Krebsschaden war für ihn, dass man das Evangelium in das Alte Testament transponiert hat. Bloß äußerliche Zeichen änderten für ihn daran nichts.

Die Juden warten nach Markion noch zu Recht auf ihren Messias. Dieser wird nicht Jesus heißen und ein kriegerischer Gottessohn sein, der das Reich der Juden aufrichtet. Seine Wirksamkeit wird durch die Wiederkehr Jesu aber beendet werden.



Adolf von Harnack. Der provokante
Theologe lebte von 1851 bis 1930. Seine Schriften
riefen Widerspruch konservativer Kollegen hervor.
Wie sieht Markion den Menschen? Er ist auch für ihn gewissermaßen das Endziel der Schöpfung. Aber nicht deren Krone, kein imposanter Höhepunkt, sondern geradezu eine Tragödie. Der Mensch müht sich durch die Welt und durch sein Leben, lässt sich verführen, um am Ende zu sterben und zu verfaulen. Enthaltsam zu sein ist so auch ein Trotzen gegenüber dem Schöpfer, dazu noch Askese und Bereitwilligkeit zum Martyrium. Gerettet werden kann wenig überraschend nur seine Seele, nicht das Fleisch. 

Paulus stand manchem wohl Pate, insgesamt hätte er die Lehre Markion natürlich verworfen. Doch auch für Paulus war "alles neu geworden". Er hat das AT als Grundlage der Missionierung der Heiden und die Gesetze des AT außen vor gelassen. Harnack sieht in Markion einen Weiterbildner des Paulinismus. Er zeigt sich weiters grundsätzlich aufgeschlossen für dessen reformatorische Ideen (Harnack war liberaler protestantischer Theologe), vergleicht ihn auch mit Luther, der seiner Meinung nach den Schritt ganz weg vom AT vollziehen hätte können.

Wie ist Markion zu bewerten? Seine Theologie bricht mit allem, was katholisch, evangelisch oder orthodox ist. Ohne Frage ist er radikal, sein Leben war davon gezeichnet. Für die katholische Kirche brachte er Schwung in Hinsicht auf die nötige Kanonisierung der Schriften. Der christliche Osten scheint stärker von ihm geprägt worden zu sein, manche meinen, auch im Koran markionitische Züge erkennen zu können. Ohne dass er sich direkt auf die Gnosis bezog – er lehnte es auch ab, dass Geheimwissen nötig sei–, sind nicht zuletzt gnostische Züge eindeutig zu erkennen, seine Kontakte zu Gnostikern gelten als sicher. Insofern ist hier Vorsicht geboten, doch sind seine Thesen in sich konsistent, nicht Weniges ist denklogisch und bietet Erklärungen, die vielfach einleuchten. 

Ein Gespräch mit einem konservativ-katholischen Priester, das ich über Grundsätze des christlichen Glaubens führte, geriet ins Stocken, als ich das Alte Testament zur Disposition stellte. "So brauchen wir nicht weiterzudiskutieren", das zeigt, um welche Grundsatzfragen sich dieser Beitrag dreht.




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